Für eine solidarisch-sozialdemokratische Gesundheitspolitik (ASG Baden-Württemberg)

Aus SPD Baden-Württemberg
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Landesparteitag 14.Februar 2009 in Singen




Antragsteller: ASG Baden-Württemberg

Empfänger: Landtagsfraktion, Bundestagsfraktion


Der Landesparteitag hat beschlossen:


Qualität und Kosten des Gesundheitswesens beeinflussen mit rund 4,3 Mio. Arbeitnehmern und Selbständigen sowie Gesamtausgaben in einer Größenordnung des Bundeshaushaltes, erheblich die Rahmenbedingungen der medizinischen Versorgung der Bevölkerung. Die Gesundheit des einzelnen Bürgers wird aber mindestens genauso durch seine Arbeitsbedingungen, seine Bildung, seine Wohnverhältnisse, seine Ernährung und die Qualität seiner Umwelt beeinflusst. Sozialdemokratische Gesundheitspolitik darf sich daher nicht nur auf Krankenversicherungspolitik beschränken. Sie versteht sich deshalb als Querschnittspolitik: sie umfasst die notwendige medizinische Vollversorgung im Krankheitsfall und deren solidarische und paritätische Finanzierung durch alle Wohnbürger und Arbeitgeber, dazu gehören nicht krankmachende, sondern menschenwürdige Arbeitsbedingungen mit leistungsgerechter und Existenz sichernder Bezahlung, gute und bezahlbare Wohnungen, eine gesunde Umwelt, ausreichende und gesunde Ernährung vom Kindesalter an, Schutzimpfungen zur Verhinderung von Krankheiten und die Einführung eines geriatrischen Assessments, um es unseren Seniorinnen und Senioren zu ermöglichen, möglichst lange und selbstbestimmt in ihrer gewohnten häuslichen Umgebung leben zu können. Das zusammen sind entscheidende politische Handlungsfelder zur Verringerung oder gar Vermeidung verhältnisbedingter Krankheitsursachen.


Die SPD Baden-Württemberg fordert zur Erreichung dieser Ziele daher einen Wandel unter folgenden Thesen:


1. Ziel glaubwürdiger Gesundheitspolitik ist die Verbesserung und Erhaltung der Gesundheit aller Bürger. Dies erreicht ein moderner Staat, in dem er entsprechende Gesundheitsziele auf allen staatlichen Ebenen formuliert. Die Definition von Gesundheitszielen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und muss unabhängig von einzelwirtschaftlichen Interessen erfolgen. Erstes und vorrangiges Ziel staatlicher Gesundheitspolitik muss daher der barrierefreie Zugang für alle Wohnbürger und zwar unabhängig von der „Höhe des Geldbeutels des Einzelnen“ zur medizinisch notwendigen Versorgung mit vollem Einschluss der menschlichen Zuwendung und des medizinischen Fortschritts sein.


2. Eine unabhängige regionale und überregionale Gesundheitsberichterstattung muss eine qualifizierte regionale, unter politisch-parlamentarischer Kontrolle stehende, Versorgungsplanung ermöglichen. Pflege, hausärztliche Versorgung sowie hochspezialisierte ambulante und stationäre Betreuung müssen gleichberechtigt, aber gestaffelt, an der Versorgung beteiligt sein. Dazu gehört, dass Bund, Länder und Kommunen ihrem verfassungsmäßigem Sicherstellungsauftrag für die Gesundheitsfürsorge durch direktes Engagement nachkommen. D.h., dass auch in den Nicht-Ballungsräumen und im ländlichen Raum die Basisversorgung durch Hausärzte und öffentliche Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung flächendeckend zu sichern ist. Hierzu sind für die ambulante ärztliche Versorgung die Gebiete kleinräumiger auszuweisen. Kommt die jeweilige Kassenärztliche Vereinigung (KV) ihrem Sicherstellungsauftrag nicht nach, geht dieser unmittelbar auf die GKV über. Eine versichertennahe Versorgung ist unabdingbar für eine älter werdende Gesellschaft, wenn gleichzeitig den Erwerbstätigen immer mehr Mobilität und Flexibilität bei Aufgabe gewachsener Bindungen abverlangt werden.


3. Wettbewerb um Gesundheitsgüter, für die der Einzelne – sobald er erkrankt ist – keine echte Präferenz bilden kann, ist nur eingeschränkt möglich. Dort wo er erlaubt wird, muss er im Rahmen einer strikten Wettbewerbsordnung stattfinden. Monopole und exzessive Gewinne zu Lasten der Versichertengemeinschaft oder des einzelnen Kranken müssen verhindert werden: Krankenhaus-Hierarchien müssen zu Gunsten funktions- und qualitätsdefinierter Teamarbeit abgelöst werden. Medizinische Fachkräfte sind von fachfremder Bürokratie, Organisationsarbeit und Überstunden zu entlasten und entsprechend ihrer Qualifikation zu bezahlen. Die Politik - Bundestag und Bundesregierung – sind in der Verpflichtung, industrieunabhängige Forschungsziele zu bestimmen, sie festzulegen und dann auch (teil-) zu finanzieren, wo gesundheitspolitischer Bedarf besteht, wenn die Industrie dem nicht nachkommt, weil es sich um seltene Erkrankungen und geringe Patientenzahlen handelt und damit bspw. bei Arzneimitteln keine großen Umsätze (Blockbuster) zu erwarten sind. Bei diesem Prozess kommt der Versorgungsforschung eine herausgehobene Stellung zu, um zu einer fundierten Ist-Soll-Analyse zu gelangen. Die Preisgestaltung der pharmazeutischen Industrie und der Arzneimitteldistribution muss neu reguliert werden (Beispiel Lucentis). Die SPD Baden-Württemberg fordert als weiteren Schritt zur Verbesserung der Effizienz und Effektivität der durch das GKV-WSG eingeführten Kosten-Nutzen- Bewertung des IQWiG die Weiterentwicklung zur vierten Hürde bei der Arzneimittelerstattung: alle neu zugelassenen Medikamente bekommen nur eine vorläufige Erstattungsfähigkeit. Die endgültige Höhe der Erstattungsfähigkeit hängt vom Nachweis des tatsächlichen Arzneimittel-Mehrnutzens gegenüber den bisherigen gesicherten Arzneimitteln ab. Die Versandapotheken sind gleichberechtigt neben den Offizin-Apotheken zur Versorgung der Bürgerinnen und Bürger mit Medikamenten zuzulassen. Die Honorarsysteme im ambulanten/stationären Sektor müssen nachhaltige Anreize für eine Versorgung der Patientenprobleme auf der jeweils angemessenen Stufe der Versorgung bieten, insbesondere die Honorierung von Pflege und hausärztlicher Versorgung sollten für eine möglichst umfassende Betreuung der Patienten auf dieser Versorgungsstufe Anreize geben. Für den stationären Bereich fordern wir eine zweijährige Überprüfung der Entgelte (Fallpauschen) mit Hilfe eines analytischen Personalbemessungsverfahren, dem der tatsächliche Bedarf an medizinisch- pflegerischen Leistungen zugrunde liegt, durch das InEK-Institut G-DRG System. Die mit dem GMG neu eingeführte Regelung des befundsorientierten Zahnersatzes ist mit der Zielsetzung zu überprüfen, dass der Eigenanteil der Versicherten wieder auf die Höhe vor dem GMG zurückgeführt wird.


4. Wir fordern die Landesregierung auf, ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Finanzierung der Krankenhausinvestitionen nachzukommen und ausreichende Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Nur damit ist der schleichende Ausstieg aus der Länder-Krankenhausfinanzierung zu stoppen und der Trend umzukehren. So sank die Investitionsquote für die öffentliche Krankenhausfinanzierung seit Inkrafttreten des KH-Finanzierungsgesetzes im Jahre 1972 von rd. 25 Prozent auf rd. 5 Prozent, mit der Folge, dass 2006 die gesetzlichen Krankenkassen mit rd. 50 Mrd. Euro die Krankenhäuser finanzierten, während die Länder nur noch rd. 2,7 Mrd. Euro zahlten.


5. Heilmittel wie Ergotherapie, Krankengymnastik, Massagen, Logopädie sind unverzichtbare Therapien und stehen sowohl in der Rehabilitation als auch in der Akutbehandlung hinter keiner Therapieform zurück. Voraussetzung ist die richtige Indikation und qualifizierte Ausbildung. Die SPD Baden-Württemberg fordert: wissenschaftliche Sicherung der Methoden durch Untersuchungen zu Wirksamkeit und Nutzen der angewandten Heilmittel, Verpflichtung der Ärzte zur Fortbildung in differenzierten Erkenntnissen in der Heilmitteltherapie und Verordnung, Aufnahme der Heilmittelversorgung in die Gesundheitsberichterstattung.


6. Die SPD Baden-Württemberg fordert weiterhin eine klare Entscheidung für eine Krankenversicherungs-Finanzreform im Sinne einer Bürgerversicherung. Dies hat sowohl der Bochumer-Bundesparteitag im 32 November 2003 beschlossen als auch der Hamburger Parteitag mit dem Neuen Grundsatzprogramm. Ziel ist die nachhaltige, sozial gerechtere Anpassung der finanziellen Ressourcen an den tatsächlichen Bedarf eines modernen Gesundheitswesens.


7. Die SPD Baden-Württemberg fordert eine ersatzlose Streichung der mit GKV-WSG eingeführten Regelung, wonach der Gesundheitsfonds nur im Startjahr 2009 eine 100-prozentige Ausgabendeckung der GKV zu gewährleisten hat und die Bundesregierung lediglich dazu verpflichtet, erst dann in eine Prüfung zur Anpassung des Beitragssatzes einzutreten, wenn der Fonds zwei Jahre hintereinander nur noch 95 Prozent der Ausgaben finanziert. Die Folge dieser Gesetzesbestimmung bedeutet, dass eine finanzielle Unterdeckung in Milliardenhöhe entsteht, die allein die Versicherten durch den Zusatzbeitrag zu finanzieren haben. Diesen Zusatzbeitrag lehnen wir ab, ebenso wie Selbstbehalte für den Katalog der Gesetzlichen Aufgaben. Dies sind Fremdkörper einer sozialen Krankenversicherung. Stattdessen fordert die ASG, dass die Bundesregierung in eine jährliche Überprüfung des notwendigen Einheitsbeitragssatzes und Steuerzuschusses einzutreten hat mit der Verpflichtung, diesen in der Höhe festzusetzen, dass der Fonds 100 Prozent der GKV-Ausgaben finanziert und die Versicherten durch keinen weiteren Zusatzbeitrag belastet werden.


8. Der Versicherungsschutz für jeden und der Finanzausgleich nach Krankheitsrisiken sind wichtige Schritten auf dem Weg zur Bürgerversicherung, für die wir weiterhin eintreten. Wir wollen unser Gesundheitswesen gerechter finanzieren. Zuzahlungen, Praxisgebühren und Selbstbehalte sind unsolidarische Finanzierungsarten, wenn sie keine Lenkungswirkung haben. Wir werden daher die Kasse verpflichten, allen Versicherten ein Versorgungsmodell anzubieten, das von Selbstbeteiligungen freistellt. Diese Befreiung kann an die Einhaltung einer hausarztzentrierten Versorgung mit Überweisungsgebot gebunden sein. Gesundheitsschädliche Produkte und Konsumgewohnheiten werden wir versteuern, sei es durch den Abbau von Subventionen oder gezielte Besteuerung. Dazu gehören insbesondere die Gleichbesteuerung von Tabakfeinschnitt oder hochprozentigen Alkoholika. Die Einnahmen hieraus fließen in das Gesundheitswesen.


Begründung:

Soziale Demokratie im 21. Jahrhundert“ - Grundsatzprogramm der sozialdemokratischen Partei Deutschlands / Hamburger Parteitag 28.10.2007:

Vorsorgende sozialdemokratische Gesundheitspolitik will Krankheit vermeiden, Gesundheit erhalten und Unterschiede an den Gesundheitschancen abbauen. Wir streben gesunde Lebensverhältnisse für alle Menschen an und fördern gesundheitsbewusstes Verhalten. Wir fördern Gesundheitserziehung von Anfang an und verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen, auch in Kindertagesstätten und Schulen. Jedes Kind hat ein Recht darauf, gesund aufzuwachsen.

Zugleich müssen die Möglichkeiten des medizinischen Fortschritts dazu genutzt werden, Krankheiten zu heilen und unheilbar Kranke menschenwürdig zu versorgen. Kranke haben unabhängig von Herkunft, Alter oder Geschlecht denselben Anspruch auf Versorgung und gleiche Teilhabe am medizinischen Fortschrift. Wir wollen keine Zweiklassenmedizin. Deshalb wollen wir die solidarische Bürgerversicherung, in die alle Menschen einbezogen werden.

I. Ausgangssituation 1998 bis 2008 – Gesundheitspolitik unter sozialdemokratischer Führung – Zeit für eine Bilanz Sozialdemokratische Gesundheitspolitik erfolgte seit 1998 unter der Vorgabe der Qualitätsverbesserung, der Kostensenkung durch Produktivitätssteigerung und der Ausschöpfung von Rationalisierungsreserven im Gesundheitswesen. Die Zielsetzung lautete: Gewährleistung einer bedarfsgerechten und gleichmäßigen, dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechenden Versorgung der Versicherten (§ 70 SGB V) Rücknahme des unmittelbaren staatlich politischen Engagements mit folgerichtigem Abbau vorherrschender Anbieterdominanz. Steigerung der Produktivität und der Qualität durch Verbesserung der Transparenz und Information der Patienten. schichten- und bildungsunabhängiger Zugang für alle Versicherten zum Gesundheitssystem, Erhalt und Stärkung des Solidaritätsprinzips: „Gesund für Krank, Jung für Alt, Besserverdiener für sozial Schwächere , Nichtbehinderte für Behinderte, Singles für Familien“.

II. Fazit nach 10 Jahren sozialdemokratisch geprägter Gesundheitspolitik

1. Qualität der Gesetzgebung Die Gesetzgebung der vergangenen Jahre führte trotz sozialdemokratischer Federführung sowohl unter Rot-Grün, als auch unter der jetzigen schwarz-roten Bundesregierung zu Koalitions- und auch Bundesrats geprägten - teilweise paradoxen – Ergebnissen. Der gesundheitspolitische Diskurs verkürzte sich vorwiegend auf ökonomische Rahmendaten, vorwiegend auf die Beitragssatzhöhe als Lohnnebenkosten und Versorgungsstrukturen, unter weitestgehender Ausklammerung der Diskussion um die bedarfsgerechte und medizinisch notwendige Vollversorgung sowie die solidarisch gerechte Finanzierung des Systems. Das verfassungsrechtliche Gebot der Sicherstellung der Vorsorge des Staates für die Gesundheit seiner Bürger blieb zwar erhalten. Bund, Länder und Kommunen verabschieden sich jedoch zusehends aus ihrer unmittelbaren finanziellen Verantwortung für die Funktionsfähigkeit und damit für die Versorgung der Kranken. Gleichzeitig nehmen staatliches Mitspracherecht, Regelungsintensität und Bürokratie drastisch zu, während die soziale Selbstverwaltung der GKV in ihrer Aufgabenstellung und Gestaltungshoheit durch die künftige Festsetzung des Einheitsbeitragssatzes durch die Bundesregierung ihrer zentralen Legitimation beraubt und damit auch in ihrer Handlungsfähigkeit drastisch eingeschränkt wird – wurden die paritätisch und solidarisch finanzierten Leistungen durch Ausgrenzung, höherer Zuzahlung und eines zusätzlichen Sonderbeitrags einseitig zu Lasten der Versicherten/Patienten reduziert. (BtDrcks. 15/1525 S.171: das GMG kürzte Leistungen für die Versicherten in einer finanziellen Größenordnung von 17,5 Mrd. € /Jahr).

2. Qualität der Patientenversorgung Die Versorgungsqualität sinkt, obwohl der medizinische Fortschritt, verbunden mit organisatorischen Verbesserungen, eine bessere Betreuung vieler Krankheitsbilder ermöglicht: Die Behandlung vieler Krankheiten wie z. B. koronarer Herzkrankheit, Diabetes mellitus oder auch die Versorgung mit Endoprothesen wurde in den letzten Jahren analog zur weltweiten medizinischen Entwicklung deutlich verbessert. Andere Krankheitsbilder wie z.B. einzelne Krebskrankheiten werden zwar früher erkannt, oft erfolgreich operiert, aber in ihrem Verlauf trotz enormer Kostensteigerung innerhalb der letzten 10 Jahre nicht nachhaltig beeinflusst. Das Versorgungssystem ist für viele Patienten/Versicherte intransparent. Der Zugang zur Krankenversorgung und zur Pflege wird für die einzelnen Bürger immer stärker abhängig von Bildung, Informationsmöglichkeiten (Internet) und Einkommen. Unter dem Finanzdruck dünnen die Krankenkassen ihr Geschäftsstellennetz in der Fläche immer weiter aus. Der Versicherte wird immer längere Wege zu einem direkten Ansprechpartner zurücklegen müssen. Die direkte, wohnortnahe Versichertenberatung weicht den Call-Centern. Vorwiegend nur noch gut informierte, gebildete Bürger können eine an den derzeitigen Möglichkeiten gemessene, optimierte und bestmögliche Qualität der Behandlung für sich und ihre Familien durchsetzen. Die regionalen Versorgungsstrukturen im Wettbewerb richten sich zunehmend nicht mehr nach objektiv notwendiger Versorgungsnotwendigkeit, sondern nach möglichen Umsatzzahlen und Gewinnchancen. Dieser Trend wird im öffentlichen Krankenhaussektor noch dadurch verschärft, dass die Bundesländer seit Jahren in immer geringerem Umfang ihrer Verpflichtung zur Finanzierung der notwendigen Krankenhausinvestitionen nach kommen, mit der Folge, dass in immer größerem Umfang ein Teil der Behandlungserlöse für notwendige Investitionen verwendet werden muss (schleichende Monistik). Diese Kombination aus Kostendruck und Wettbewerb sowie Umsatzerwartungen führt zu Personalabbau vorwiegend bei Pflegekräften in Kliniken und Praxen und zu einer Verdünnung der ärztlichen Präsenz im ländlichen Raum. Die Folge ist: Der Patient trifft im Versorgungssystem auf verunsicherte, von Hierarchie, Bürokratie, Regelungswut und Überarbeitung gestresste medizinische Fachkräfte. Das Vertrauen der Bürger in die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens sinkt angesichts der oben geschilderten Entwicklungen rapide.

3. Kostenentwicklung und Finanzierung Der Anteil der Gesundheitsausgaben gemessen am BIP ist im internationalen Vergleich immer noch hoch: Deutschland belegt mit 10,7 % der Gesundheitsausgaben am BIP 2005 weltweit hinter den USA, Schweiz und Frankreich den vierten Platz (OECD Gesundheitsdaten 2007). D. h. Geld steht in ausreichendem Maß zur Gesundheits-Versorgung zur Verfügung. Andererseits steigen angesichts einer fast ausschließlich lohnzentrierten Finanzierung der GKV die Beiträge drastisch, da die Quote der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen mit 64,7  % ( 2007) - eine Folge politisch beeinflusster geringer Tariflohnabschlüsse, der Zunahme der Teilzeit bei gleichzeitigem Rückgang der Vollzeit, der Ausbreitung prekärer Beschäftigung durch Ausweitung der Zeit- und Leiharbeit und des Niedriglohnsektor sowie von Ein- Euro-, Mini- und Midijobs, der nach wie vor der hohen Arbeitslosigkeit - einen historischen Tiefstand erreicht hat. Die Finanzsituation der GKV wird zusätzlich noch dadurch verschärft, dass für Arbeitslose keine adäquate Beitragsfinanzierung erfolgt und dadurch eine Unterfinanzierung in einer geschätzten Größenordnung von ca. 6,5 Mrd. Euro/Jahr stattfindet.

Diese politisch zu verantwortenden Beitragssatzsteigerungen müssen dann wiederum als Begründung dafür herhalten, dass: der Leistungskatalog immer weiter ausgedünnt wird, während gleichzeitig die Eigenbeteiligung der Versicherten/Patienten steigt (bspw.: Wegfall der Erstattungsfähigkeit nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel/OTCs und Sehhilfen; Verordnungsverhalten der Ärzte bei Medikamenten und Heilmittel; höhere Zuzahlung bei Zahnersatz; volle Beiträge auf Betriebsrenten/Versorgungsbezüge, etc.); gleichzeitig haften die Versicherten/Beitragszahler weiterhin für Ausgaben gesamtgesellschaftlicher Aufgaben (Familienpolitik) und für Kosten anderer Sozialleistungsträger bzw. des Staates (ALG/Sozialhilfe) einschließlich der Folgekosten deutschen Einheit, von denen die Mitglieder der privaten Versicherungssysteme (PKV) verschont werden; die implizite, von Patienten und Ärzten zu exekutierende Rationierung von Gesundheitsgütern zu nimmt, während die exzessiven Gewinne einzelner Leistungsträger in einem immer stärker marktwirtschaftlich ausgerichteten System nicht wirksam bekämpft, sondern durch die bestehenden Finanzierungs- und Honorarsysteme im Wettbewerb teilweise noch gefördert werden.

III. Solidarprinzip Aufgrund der nur historisch erklärbaren, gesellschafts- und gesundheitspolitisch jedoch nicht zu rechtfertigenden parallelen Existenz von gesetzlicher und privater Vollversicherung durch eine antiquierte Versicherungspflichtgrenze, die bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von der Höhe des Arbeitsentgelts abhängig ist (2008: 48150 €/Jahr), sind nur 87 Prozent der Bevölkerung in einer der rd. 200 gesetzlichen Krankenkassen pflicht- oder freiwillig versichert. Besserverdienende, Selbständige, Freiberufler und Beamte haben die Wahlfreiheit, ob sie sich freiwillig in einer der gesetzlichen Krankenkassen oder bei einer privaten Krankenversicherung versichern bzw. nicht versichern. Durch diese politisch gewollte Trennung verliert die GKV seit Jahren beständig junge, gesunde gut verdienende Versicherte (Risikoselektion) mit der Folge eines Netto-Finanzkraftverlusts pro Jahr von jeweils 0,7 bis 0,9 Mrd. Euro. (Anmerkung: Durch das GKV-WSG ist ein Wechsel nur noch dann möglich, wenn das Arbeitseinkommen drei Jahre hintereinander die Versicherungspflichtgrenze übersteigt.)

Mit dieser, eines modernen-demokratischen, der sozialen Marktwirtschaft verpflichteten Staates, längst nicht mehr zeitgemäßen, antiquierten Trennung wird nicht nur die solidarischen Krankenversicherung geschwächt, sondern auch der Grundsatz der gleichwertigen und bedarfsgerechten Versorgung in Frage gestellt: die GKV sichert weiterhin die Solidarität der Schwachen mit den Schwachen die PKV sichert weiterhin die Solidarität der Starken mit den Starken; die neuen Bonussysteme und Wahltarife erlauben es auch den Gesunden und Jungen, sich teilweise aus der Solidarität zu verabschieden, der Ausschluss immer weiterer Bereiche aus dem Pflicht-Leistungskatalog des SGB V verbunden mit der stetigen Erhöhung der Eigenbeteiligung der Patienten schwächt insgesamt die Solidarität der Versicherten untereinander und damit die der Stärkeren mit den Schwächeren. Damit stellt sich mittel- und langfristig die Akzeptanz dieses bewährten Solidarsystems.

IV. Wettbewerb und differenzierte Vertragssysteme Der Wettbewerb im Gesundheitswesen findet ohne wirksame und solidarische Wettbewerbsordnung innerhalb einer Fülle differenzierter Vertragssysteme fast ausschließlich zu Lasten der Patienten und der Beschäftigten im Gesundheitswesen statt. Dies führt bei den Krankenkassen: vorwiegend zu einem Wettbewerb um Gesunde oder um solche nur geringe Kosten/Ausgaben verursachende Versicherte und bei den Leistungserbringern: zu einem Wettbewerb um möglichst niedere Risiken bei hoher Umsatz- und Gewinnerwartung; zu privatwirtschaftlichen Monopolen für fachärztliche stationäre und ambulante Leistungen mit der Möglichkeit der Eigendefinition der Indikation, des Preises und der Qualität der erbrachten Leistung; zu Versorgungsstrukturen, die sich - ohne Möglichkeit der Beeinflussung durch die Krankenkassen – nicht nach Notwendigkeit, sondern nach Gewinnerwartung entwickeln. Ein qualifiziertes Rückversicherungssystem zur Sicherung der Versorgerkassen ist (noch) nicht ausformuliert. Diese Entwicklung bedroht die Existenz und Funktion der für die Patienten unmittelbar erreichbaren so genannten Versorgerkassen, (d.h. denjenigen Kassen, die das Risiko der Versorgung alter und schwacher Patienten tragen) und damit letztendlich die Versorgung der Patienten auf dem bisherigen Niveau.