"Sozialstaat. Hier entsteht Zukunft."
„Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ (Willy Brandt)
Der Mensch im Mittelpunkt
Der Mensch steht im Mittelpunkt. Nicht das System oder das Kollektiv. Nicht die Wirtschaft oder das Kapital. Ziel sozialdemokratischer Anstrengungen war es und ist es, stets diejenigen Voraussetzungen zu schaffen, in denen das Individuum in größtmöglicher Freiheit nach seinen eigenen Vorstellungen ein selbstbestimmtes, menschenwürdiges Leben führen kann.
Wo die Freiheit des/der Einzelnen fehlt, herrschen Unterdrückung und Ausbeutung. Die Unfreiheit und der Unrechtsstaat der DDR sind für uns keine Alternative, sondern eine Mahnung der Geschichte. Voraussetzung unseres Handelns sind nicht überkommene Ideologien, sondern ein klarer Blick auf eine sich dynamisch verändernde Gesellschaft.
Zementierte Abhängigkeiten kultureller, religiöser oder geographischer Art konnten im Laufe der vergangenen Jahrhunderte in einem Ausmaß abgebaut werden, wie es damals niemand für möglich gehalten hätte. Zwanghafte Geschlechterrollen konnten aufgeweicht werden. Der Horizont hat sich geweitet. Der/die Einzelne hat heute eine Vielzahl von Möglichkeiten für die Gestaltung seines eigenen Lebens. Wo will ich wohnen? Was will ich arbeiten? An was will ich glauben? Mit wem möchte ich mein Leben verbringen? Die neu gewonnene Freiheit sollten wir als junge Menschen in erster Linie nicht als Bedrohung begreifen, sondern als eine Bereicherung und Emanzipation. Früher war nicht alles besser.
Gleichzeitig bringen diese Optionen für den eigenen Lebensweg auch Bürden mit sich. Die Gefahr, an dieser Fülle von Möglichkeiten, den Maßstäben der Öffentlichkeit und an den eigenen Erwartungen zu scheitern, wächst. Unser Ziel ist nach wie vor, die Möglichkeiten für die eigene Lebensgestaltung zu erweitern, gleichzeitig aber auch Sicherheit zu geben. Der/die Einzelne braucht daher nicht nur Chancen, denn Chancen kann man verpassen. Der/die Einzelne braucht Perspektiven, die man immer wieder aufs Neue in den Blick nehmen kann. Lebenswege sollen nicht abhängig sein von wirtschaftlichen Zwängen, konjunkturellen Zyklen oder von der Kassenlage der öffentlichen Hand.
Damit Hand in Hand geht für uns die Verpflichtung des/der Einzelnen, andere bei ihrer Selbstverwirklichung zu respektieren und zu unterstützen. Die gewonnenen Freiheiten sind zugleich Verpflichtung und begründen Verantwortung für die Mitmenschen.
Der/die Einzelne ist als soziales Wesen existenziell auf Gemeinschaft angewiesen. Wer einsam ist, kann sich als Mensch nicht verwirklichen. Vereinsamung, das bedeutet nicht nur die Abwesenheit menschlicher Kontakte, sondern auch geistige und kulturelle Einsamkeit. Vereinsamung resultiert auch aus bewusster Ausgrenzung.
Der soziale Staat
Der Staat ist die Gemeinschaft aller BürgerInnen, der auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik das gesellschaftliche Leben maßgeblich prägt, Ordnung und Halt gibt und Solidarität organisiert. Er ist im 21. Jahrhundert kein Relikt vergangener Tage – ganz im Gegenteil.
Für uns Jusos sind fünf Elemente Grundpfeiler moderner, solidarischer und gerechter Staatlichkeit: Sicherung der Existenzgrundlage, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Vermittlung von Wertschätzung, Eröffnung von Perspektiven, gerechte Lastenverteilung. Erst wenn dies erfüllt ist, wird der Staat für den/die Einzelne/n zu einem sozialen Miteinander.
Diese Herausforderungen bedingen einen sehr umfassenden Begriff eines modernen und gerechten Staates und ihre Erfüllung ist nicht allein an monetären Transfers auf der Ausgabenseite zu messen.
Ein sozialdemokratischer Sozialstaat kämpft um jedes einzelne Mitglied unserer Gesellschaft. Wir stellen nicht ruhig. Wir geben nicht auf. Der Staat soll motivieren und unterstützen, helfen und animieren. Er soll Fürsorge bieten, Kümmerer sein, aber auch dem Individuum Anreize bieten, seine Situation zu verbessern. Der Staat muss klare Strukturen geben, verlässlicher Partner sein. Grenzen aufzeigen und Mauern einreißen. Sozialdemokratisch ist der Staat, der den BürgerInnen Aufstieg ermöglichen und Sicherheit vermitteln kann. Er bietet in verschiedenen Situationen individuelle Antworten: Er ist Sprungbrett und Sicherheitsnetz.
Sicher ist, dass die Finanzierung dieser Aufgaben viel Geld kosten wird. Die Akzeptanz für ein Mehr an sozialstaatlichen Aufwendungen wird aber dann vorherrschen, wenn der Sozialstaat, orientiert an diesen Maßstäben, bessere Ergebnisse als bisher liefert. Wenn wir den Menschen gezielt helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, wird sich auch die Abhängigkeit von Transfers verringern. Wenn es der Staat schafft, diese Aufgaben zu erfüllen, dann wird er auch stärker auf die Eigeninitiative der Menschen setzen können. Dann kann er diese auch einfordern.
Akzeptanz für erhöhte Aufwendungen des sozialen Staates wird es auch dann geben, wenn diese Belastungen gerecht verteilt sind. Hier sind Steuern das zentrale Element für die Finanzierung unserer sozialstaatlichen Aufgaben. Durch sie kann Politik sicherstellen, dass alle gemäß ihrer Leistungsfähigkeit einen Beitrag zur Finanzierung des großen Ganzen leisten.
Der moderne Sozialstaat muss zwischenmenschliche Beziehungen als Mittel nutzen, Vereinsamung zu überwinden. Der Sozialstaat muss für den Menschen ein Gesicht bekommen. Er muss sich in AnsprechpartnerInnen, BetreuerInnen und HelferInnen repräsentieren. Er ist dort, wo die gesellschaftlichen Probleme entstehen und nicht in den Amtsstuben der Behörden.
Unser Sozialstaat zeichnet sich dadurch aus, dass die unterschiedlichen staatlichen Ebenen im Sinne einer effizienten Aufgabenerfüllung so zusammenarbeiten, dass für die BürgerInnen klar ist, wer ihnen bei der Lösung ihrer Probleme helfen kann. Wir wollen Parallelstrukturen verhindern und die unbürokratische Hilfe aus einer Hand ermöglichen. Dafür brauchen die Strukturen vor Ort eine bessere finanzielle Ausstattung und mehr Freiräume.
Bildung ist für uns der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben und ist damit ein ganz wichtiger Teil unseres Sozialstaates. Bildung ist in unseren Augen keine zinsträchtige Investition, sondern ein Wert an sich und Auftrag des sozialen Staates. Wir werden Bildung nicht an Renditen messen, sondern an dem Grad an Befähigung für ein emanzipiertes Leben, welche sie den Menschen ermöglicht.
Kinder und Jugendliche sind für diese Gesellschaft nicht die BeitragszahlerInnen von Morgen, sondern das Wertvollste, was diese Gesellschaft hat: Zukunft. Wenn der Sozialstaat in Zukunft mehr Gerechtigkeit schaffen will, muss er deshalb bei den ganz Kleinen ansetzen. Wir wollen der jungen Generation aber auch nicht überdimensionierte Finanzierungslasten aufbürden, sondern ihnen einen Staat hinterlassen, der auch für sie noch Armut bekämpft und nicht selbst ums finanzielle Überleben kämpfen muss.
Wer arbeitet, soll dafür auch die entsprechende ideelle und finanzielle Wertschätzung erfahren. Arbeit muss Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen und nicht nur die Haben-Seite des Arbeitgebers stärken. Wo dies der Fall ist, muss unser Sozialstaat gute Arbeit für den Einzelnen als Ziel und gleichfalls als Weg begreifen, um für ein selbstständiges Leben zu sorgen.
Unser Sozialstaat setzt bei seiner Hilfe nicht an Klischees oder Milieus an, sondern beim einzelnen Menschen und seiner Familie. Er achtet in allen Bereichen darauf, dass nach geschlechtergerechten Prinzipien gehandelt wird. Er ist nicht rassistisch, diskriminierend und nicht mit Vorurteilen belastet. Er traut den Menschen etwas zu, anstatt ihnen zu misstrauen. Nur so kann gegenseitiges Vertrauen entstehen.
Den Fortschritt wagen
Die SPD war immer die Partei des Fortschritts. Angetreten, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu Gunsten einer solidarischen und emanzipatorisch-pluralistischen Gesellschaft zu verändern, hat die Sozialdemokratie über Jahrzehnte bedeutende Erfolge errungen – ist dabei aber auch immer wieder durch tiefe Täler gewandert.
Mehr denn je muss sich die SPD im 21. Jahrhundert als Partei des Fortschritts begreifen. Eine rückwärtsgewandte Politik des Stillstands und Verharrens, wie sie in den 1990er Jahren durch die Bundesregierung unter Helmut Kohl praktiziert wurde, setzt langfristig die Zukunftsfähigkeit des Staates aufs Spiel. Dabei gilt es gerade im Bereich der sozialen Sicherungssysteme, den Fortschritt zu wagen. Aus sozialdemokratischer Sicht ist es nicht akzeptabel, dass die Finanzierung maßgeblicher Elemente des deutschen Sozialstaats weitestgehend auf Basis eines Weltbildes aus dem 19. Jahrhundert fußt, das einseitig den männlichen Alleinernährer im Blick hat – und somit die gesellschaftliche Realität im 21. Jahrhundert konsequent ausblendet.
Die sozialdemokratische Reformidee, die immer die Verbesserung und Weiterentwicklung bestehender Verhältnisse zum Ziel hat, muss auch in den Funktionsweisen des Sozialstaats ihren deutlichen Niederschlag finden. Die Idee der Alimentierung Bedürftiger, die zu einem großen Teil sich selbst überlassen werden, ist längst überkommen. Die Zementierung gesellschaftlicher Ungleichheit durch den Sozialstaat in allen seinen Facetten – ein Arbeitsmarkt, der weiter alleinerziehende Frauen diskriminiert, ein Bildungssystem, das harte soziale Auslese betreibt und ein Gesundheitssystem, das Zweiklassenmedizin zum Standard hat – muss endlich überwunden werden.
Wir brauchen eine Sozialstaatsdebatte von links. Es darf nicht sein, dass Rechte und Neoliberale die gesellschaftliche Diskussion anstoßen und bestimmen, wenn es um die Zukunft des Sozialstaates geht. Die SPD braucht wieder einen positiven Reformbegriff und den Mut zur Veränderung.
Die Krise als Wendepunkt
Seit Beginn der Finanzkrise 2008 – in das breite Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt durch die Pleite der Investment-Bank Lehman Brothers im September 2008 – durchlebt die internationale Gemeinschaft eine Wirtschaftskrise, deren Ausmaße Ihresgleichen suchen. In Deutschland erleben wir die schwerste Erschütterung des konjunkturellen Wachstums seit Bestehen der Bundesrepublik.
Wachsende Zahlen von Unternehmenspleiten, der Verlust von Arbeitsplätzen und eine steigende Schuldenlast der öffentlichen Haushalte weltweit markieren den Weg einer Krise, die wie keine seit der Weltwirtschaftskrise 1929 und der folgenden Großen Depression einen Vertrauensverlust weiter Teile der Bevölkerung in die verantwortlichen WirtschaftslenkerInnen bewirkt hat.
Während das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends geprägt war durch die Auffassung, dass ein Rückzug des Staates – vor allem auch auf dem Gebiet des Sozialstaats und der öffentlichen Daseinsvorsorge – notwendig, gar gewünscht sei, ist eine Erkenntnis der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise: Ein starker, solidarischer Staat ist notwendiger denn je. Die Sozialdemokratie behält Recht. Wir erleben gerade eine globale Renaissance der Staatlichkeit; gigantische Konjunkturpakete weltweit und umfassende Maßnahmen zur Rettung von Arbeitsplätzen und Unternehmen gehen einher mit der Meinung, dass ohne leistungsfähige staatliche Strukturen die Krise weit mehr Opfer gefordert hätte.
Dennoch ist bis heute in Deutschland – v.a. auch dank sozialdemokratischer Initiativen wie der Kurzarbeit – eine befürchtete Welle von Massenentlassungen ausgeblieben. Die Kurzarbeit hat sich auch im internationalen Vergleich bewährt: In den USA zum Beispiel sind die Folgen auf dem Arbeitsmarkt gravierend. Im Januar waren dort (nicht-saisonbereinigt) über 16 Millionen Personen ohne Arbeit. Gerade junge Menschen aber sind die VerliererInnen einer Krise, die sie nicht zu verantworten haben. Laut Berechnungen des DGB ging allein durch die Wirtschaftskrise die Zahl der von Unternehmen angebotenen Ausbildungsplätze im Jahr 2009 um 55 000 zurück. HochschulabsolventInnen sehen sich mit der Situation konfrontiert, dass unbefristete Festanstellungen immer schwerer zu erhalten sind. Befristete Anstellungen, Zeitarbeitsverträge und Praktika bestimmen das Bild einer Generation, deren langfristige Zukunftsplanungen – z.B. was die Gründung einer eigenen Familie angeht – durch die Wirtschaftskrise weiter erschwert werden.
In Baden-Württemberg, das traditionell geprägt ist durch eine starke Industrie mit dem Schwerpunkt im Automobil-, Maschinen- und Anlagenbau, zeigen sich die Auswirkungen der weltweit zurückgegangenen Nachfrage nach Industriegütern deutlich. Vor allem mittelständische Zulieferbetriebe kamen teilweise in schwerwiegende finanzielle Turbulenzen. Während sich Überkapazitäten durch Kurzarbeit, Abbau von Lagerbeständen und einer grundlegenden Anpassung der Produktionsprozesse langsam der Nachfrage der Märkte anpassen, fehlen vielen Betrieben aber die finanziellen Mittel, um die zwingend notwendigen Schritte im Bereich der Innovation einzuleiten, um sich fit zu machen für den internationalen Wettbewerb. Finanzierungsengpässe führen dazu, dass der Mittelstand Gefahr zu laufen droht, den Anschluss zu verlieren bei Fragen der Energieeffizienz und Qualitätsoptimierung.
Schwächen erkennen und benennen
Die Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass ein starker Staat und ein funktionierender Sozialstaat unerlässlich sind. Allerdings wurden durch die Krise auch die Schwachpunkte unserer sozialen Sicherungssysteme schonungslos offengelegt und bestehende Ungerechtigkeiten traten noch deutlicher zu Tage.
Die Strukturen unserer sozialen Sicherungssysteme haben sich seit ihrer Einführung durch Otto von Bismarck im späten 19. Jahrhundert nicht wesentlich geändert, während sich die familiären und beruflichen Lebenswege der Menschen erheblich gewandelt haben. Die Orientierung am männlichen Alleinverdiener geht vor allem zu Lasten aller Frauen und diskriminiert alternative Lebensentwürfe. Nicht ohne Grund wird dabei von einem konservativen Sozialstaat gesprochen.
Die starke Orientierung auf die Beiträge von ArbeitnehmerInnen hat in der Wirtschaftskrise dazu geführt, dass den geringeren Beiträgen aus Lohnnebenkosten zur gleichen Zeit höhere Ausgaben gegenüberstehen. Die Finanzierung über Beiträge wirkt so prozyklisch und krisenverschärfend, wenn nicht der Staat mit Steuermitteln einspringt. 2010 braucht die Rentenversicherung Steuerzuschüsse in Höhe von 80,7 Milliarden Euro. Das ist mit 24,6 Prozent der größte Ausgabenanteil des Bundeshaushalts (seit 1984 haben sich die Steuerzuschüsse damit fast verfünffacht). Auch die gesetzliche Krankenversicherung benötigt 11,8 Milliarden Euro, genauso wie die Bundesagentur für Arbeit einen Zuschuss von ca. 14 Milliarden Euro benötigt. Die Konjunkturabhängigkeit unseres Sozialstaates geht also voll zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung oder – durch die stark angestiegenen Schulden – zu Lasten künftiger Generationen.
Die Beitragsfinanzierung führt dazu, dass die Lasten von einer kleiner werdenden ArbeitnehmerInnenschaft getragen werden, während Reiche und Superreiche aus der Verantwortung entlassen werden und Unternehmen sich der paritätischen Finanzierung Stück für Stück entziehen. Unterbrochene oder kurze Beschäftigungsverhältnisse führen zu geringeren Ansprüchen im Alter. Davon sind vor allem Frauen betroffen.
Der konservative Sozialstaat geht von drei Voraussetzungen aus: steigenden Geburtenraten, positivem Wirtschaftswachstum und steigenden Löhnen. Alle drei Voraussetzungen für gefüllte Sozialkassen sind aber aktuell nicht gegeben. Unser Ziel muss es sein, diese Trends umzukehren. Dies wird uns aber nicht kurzfristig gelingen. Selbst wenn die Geburtenraten wieder ansteigen, wird sich diese Entwicklung erst in knapp 30 Jahren spürbar auswirken. Die Wirtschaft beginnt sich langsam zu erholen. Es ist aber noch ungewiss, wie lange es dauern wird, um den Stand von vor der Krise wieder zu erreichen. Wachstumsraten von über drei oder vier Prozent sind in den kommenden Jahrzehnten in Deutschland unwahrscheinlich. Nach den vielen Jahren der Lohnzurückhaltung und sogar realen Lohnsenkungen sind steigende Löhne notwendiger denn je. Unrealistisch ist es aber, dass Lohnsteigerungen in einem Ausmaß möglich und durchsetzbar sind, welche die offenen Finanzierungsfragen der sozialen Sicherungssysteme alleine lösen werden.
Studien zeigen, dass die Effizienz unseres Sozialstaates noch sehr zu wünschen übrig lässt. Einer relativ hohen Sozialausgabenquote stehen Ergebnisse gegenüber, die sich im europäischen Vergleich als unterdurchschnittlich erfolgreich erweisen. Beim EU-Sozialranking belegen wir insgesamt nur Platz 19 von 27 europäischen Staaten. Die größten Probleme werden hier bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt und beim Generationenverhältnis gesehen. Auch auf die demografische Entwicklung hat unser Sozialstaat noch keine Antwort gefunden. Ganztägige Betreuungsangebote fehlen gerade in Baden-Württemberg, was dazu führt, dass Kinder auch hierzulande mit das größte Armutsrisiko darstellen.
Spielräume schaffen
Die Wirkung der Finanz- und Wirtschaftskrise für die Finanzsituation der öffentlichen Haushalte ist verheerend. Die Gesamtverschuldung der öffentlichen Hand beträgt aktuell mehr als 1,6 Billionen Euro (in Zahlen: 1 600 000 000 000 Euro). Mit 80,2 Milliarden Euro nimmt die neue schwarz-gelbe Bundesregierung so viele Schulden auf wie keine Regierung vor ihr. Auch die Kassenlage der Bundesländer und Kommunen offenbart eine schwere Bürde für die Zukunft. Im baden-württembergischen Haushalt wird 2010 alleine die Zinslast mit rund zwei Milliarden Euro zu Buche schlagen.
Neben dem nüchternen Zahlengebilde sind es aber die direkten Auswirkungen und langfristigen Folgen, welche die wachsende Staatsverschuldung in Deutschland als ein zunehmendes Problem erscheinen lassen. Ziel sozialdemokratischer Finanzpolitik ist es, mit einem soliden Haushalt und einer nachhaltigen Finanzpolitik den Grundstein zu legen für einen handlungsfähigen Sozialstaat, der in allen seinen Facetten auf eine gesunde Finanzierungsbasis angewiesen ist. In vielen – auch europäischen Ländern – lässt sich die verfehlte Haushaltspolitik, die einseitig auf Schuldenexzesse gesetzt hat, nun beobachten: Sozialabbau, Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst und umfangreiche Privatisierungen sind die Folgen. Das ist nicht das, was die Jusos Baden-Württemberg wollen!
Als VertreterInnen der jungen Generation kämpfen wir Jusos für eine Politik, die auch für zukünftige Generationen einen handlungsfähigen Staat ermöglicht. Denn: Die Folgen eines überschuldeten Staates wären gravierend. Gerade für die Schwächsten in unserer Gesellschaft, für die sozialdemokratische Politik sich verantwortlich zeigen muss, hätte das fatale Konsequenzen. Nicht nur, dass zentrale Bestandteile öffentlicher Daseinsvorsorge – auch im kommunalen Bereich – zur Debatte stehen würden, auch Kürzungen sozialer Transferleistungen könnten zur Zielscheibe von Sparmaßnahmen werden.
Bisher ist es aber keiner Bundesregierung gelungen, in Zeiten sprudelnder Steuereinnahmen auf Schuldenaufnahme zu verzichten, geschweige denn mit der Rückzahlung der drückenden Altlasten zu beginnen. Die Zinslast betrug im Jahr 2009 41,4 Milliarden Euro. 2010 erhöht sich der Schuldenstand des Staates auf 78 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsproduktes. Also: Zeit zu Handeln!
Diese Zahlen sind eine deutliche Warnung: Staatliche Ausgabenprogramme nach dem Gießkannenprinzip führen weder zu qualitativem Wachstum, das auf moderne, umweltschonende Technologien setzt und qualifizierte ArbeitnehmerInnen benötigt, noch können so dauerhaft Arbeitsplätze erhalten, geschweige denn neue geschaffen werden.
Aufbruch und Zusammenhalt
Strukturen erneuern – Innovationen fördern
Grundlage für einen leistungsstarken Sozialstaat ist eine solide Wirtschaftsleistung. Wir sind der Meinung, dass es Merkmal eines sozialen Staates ist, sich nicht aus der wirtschaftlichen Verantwortung zu stehlen. Der Staat muss auch die Frage beantworten, wo aus seiner Sicht wirtschaftliches Wachstum entstehen soll, wenn er dies für die Finanzierung seiner sozialen Sicherungssysteme braucht. Wir sind überzeugt davon, dass man durch die gezielte Förderung von Zukunftstechnologien Wachstumsimpulse setzen kann, von denen eine Volkswirtschaft jahrzehntelang profitiert.
Baden-Württemberg ist Standort zahlreicher Industrieunternehmen, die weltweit für qualitativ hochwertige Produkte stehen. Um im zunehmenden internationalen Wettbewerb bestehen zu können, muss gerade die Innovationsfähigkeit der Unternehmen im Land weiter gefördert werden. Wirtschaftliches Wachstum muss sich unserer Meinung nach an den Kriterien der Nachhaltigkeit und Ökologie orientieren.
Im Bereich der Automobilindustrie – seit Jahrzehnten eines der Zugpferde der baden-württembergischen Wirtschaft – besteht Nachholbedarf. Fragen nach der Zukunft alternativer Antriebstechnologien bzw. Alternativen zum Verbrennungsmotor wurden zu lange mit zu wenig Intensität verfolgt. Wir sehen es deshalb als unerlässlich an, dass v.a. die Forschung und Entwicklung im Bereich der Elektromobilität weiter vorangetrieben werden muss. Bereits bestehende Konzepte gilt es dahingehend zu entwickeln und vermarkten, dass konventionellen Antriebstechnologien in möglichst naher Zukunft konkurrenzfähige Alternativen für den Alltagsbetrieb gegenüberstehen. Nicht nur aus ökologischen Gesichtspunkten betrachtet, sollten diese Chancen genutzt werden: Know-How und Wissen aus Baden-Württemberg soll auch im 21. Jahrhundert führend sein, wenn es um Fortschritt und Nachhaltigkeit geht.
Gerade für kleine und mittelständische Unternehmen sind Innovationen im Bereich von Forschung und Entwicklung von wirtschaftlich großer Bedeutung – beanspruchen oft aber auch finanzielle Kapazitäten, die schwer zur Verfügung zu stellen sind. Wir sprechen uns deshalb für eine steuerliche Förderung von Investitionen in Forschung und Entwicklung aus. Frank-Walter Steinmeier hat in seinem Deutschlandplan ein Modell vorgestellt, das eine Minderung der Steuerschuld in Höhe von 8 Prozent für Unternehmen vorsieht, gedeckelt bei insgesamt 1,5 Millionen Euro pro Unternehmen. Diese Idee ist aus unserer Sicht zielführend, wenn es um staatliche Förderung von nachhaltigem Wirtschaften geht.
Ein starker Export hat Deutschland in die Position gebracht, in der sich unser Land heute befindet. Die Fähigkeit der exportorientierten Unternehmen, von denen überdurchschnittlich viele aus Baden-Württemberg stammen, im weltweiten Wettbewerb um Ideen und Innovationen zu bestehen, steht dabei keineswegs im Gegensatz zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung, die sich auch an den Interessen der ArbeitnehmerInnen orientiert. Traditionell gehören Betriebe, die im Export von Waren und Dienstleistungen tätig sind, auch was die Entwicklung der Löhne anbelangt, zu den sicheren und attraktiven Arbeitgebern in unserem Land. Die aktuelle Wirtschaftskrise zeigt aber auch, wie anfällig der Export für konjunkturelle Schwankungen ist. Eine wachsende Binnennachfrage kann diese Schwankungen zwar abfedern, aber durch die internationale Verflechtung der deutschen Wirtschaft nicht ganz auffangen. Eine Unterstützung der Binnennachfrage sollte aus unserer Sicht durch eine Entlastung der unteren und mittleren Einkommen erfolgen.
Lösungsmöglichkeiten, die Protektionismus zum Ziel haben, lehnen wir ab. Geradezu fahrlässig würden dadurch erfolgreiche Geschäftsmodelle in Frage gestellt, Arbeitsplätze in Gefahr gebracht und wirtschaftliche Substanz vernichtet werden. Stattdessen sehen wir eine Akzentuierung in der Förderung so genannter Zukunftsbranchen – nicht nur aus wirtschaftlichen Motiven – als förderlich für die Entwicklung der Bundesrepublik an. Bereits heute erweisen sich Konzepte und Ideen aus dem Bereich der Umwelttechnologie als weltweit gefragt. Zu einem effektiveren Kampf gegen den Klimawandel lassen sich Synergieeffekte aus Maschinen und Anlagen, die energieeffizient und ressourcenschonend arbeiten, und Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet verknüpfen und weltweit vermarkten. Um diese Entwicklung voranzutreiben, muss die Landesregierung ihre Blockadehaltung im Bereich der erneuerbaren Energien endlich aufgeben.
Die Wichtigkeit intervenierender Maßnahmen, auch mit umfangreichen Finanzhilfen zur Bewältigung einer Wirtschaftskrise, steht dabei nicht zur Disposition. Gerade die Maßnahmen der Kurzarbeit waren zwar sehr kostspielig, haben ihre erhoffte Wirkung aber eben auch erzielt. Trotzdem muss auch registriert werden, dass die staatlichen Leistungen bei der Kurzarbeit zum Teil zum Missbrauch durch Unternehmen führen. Da das Kurzarbeitergeld noch das ganze Jahr läuft, muss der vorhandene Missbrauch schnell und konsequent aufgedeckt und beendet werden.
Rufen nach Firmenrettungen um jeden Preis erteilen wir jedoch eine Absage. Klar ist: Noch so viele Finanzmittel können eine dauerhafte Strukturanpassung nicht verhindern. Wir Jusos stehen für nachhaltige Investitionen: in Zukunftstechnologien und in die nötige berufliche Weiterqualifizierung von ArbeitnehmerInnen.
Solidarische Finanzierung – Wir zahlen nicht für eure Krise!
Für das gerechte Miteinander muss der Staat die Voraussetzungen schaffen, indem er jede/n nach seiner Leistungsfähigkeit an der Finanzierung sozialstaatlicher Leistungen beteiligt. Der/die Banker/in muss ebenso beteiligt werden wie der/die Politiker/in. Und ebenso wie jede/r etwas zur Finanzierung des Sozialstaates beiträgt, muss ihn auch jede/r bei Bedürftigkeit in Anspruch nehmen können. Wir müssen Schluss machen mit einem System, das bestimmte Berufs- und Bevölkerungsgruppen vom Sozialversicherungssystem ausschließt – auf EinzahlerInnen-, wie auf BezieherInnenseite. Denn unser Sozialstaat kann es sich nicht länger leisten, dass Menschen hindurch fallen durch das Netz der Sozialversicherungszweige. Und er kann es sich nicht leisten, dass insbesondere höhere und gesicherte Einkommen nichts zu seiner Finanzierung beitragen. Wir brauchen auch die BeamtInnen, die ZahnärztInnen und Selbstständigen.
Um dieses Ziel zu erreichen, streben wir langfristig ein steuerfinanziertes Sozialversicherungsmodell nach skandinavischem Vorbild an. Dabei wollen wir nicht nur das Erwerbseinkommen zur Bemessungsgrundlage machen, sondern darüber hinaus Einkünfte aus beispielsweise Zinseinkünften, Mieten oder Erbschaften.
Die Kosten der Wirtschaftskrise tragen im Moment die privaten Haushalte und die staatliche Solidargemeinschaft. Die BankerInnen, FinanzmanagerInnen und SpekulantenInnen, die durch ihre unersättliche Gier die Krise mit ausgelöst haben, zocken munter weiter. Diese Profiteure der Krise wollen wir zur Kasse bitten und sie an der Finanzierung des Sozialstaates stärker beteiligen, der auch für die Kosten ihres Handelns aufkommen muss.
Mit der Einführung der Umsatzsteuer auf Wertpapiergeschäfte an der Börse in Höhe von 0,5 Prozent wollen wir nach dem Vorbild Großbritanniens zusätzliche Steuereinnahmen schaffen und die Umlaufgeschwindigkeit an den Börsen verringern. Wir wollen auch die Steuerfreiheit der Veräußerungsgewinne von Kapitalgesellschaften abschaffen. Private Equity Unternehmen sollen unserer Meinung nach gewerbesteuerpflichtig sein.
Die von Schwarz-Gelb entschärfte Zinsschranke soll nach unserer Auffassung wieder auf eine Million Euro gesenkt werden. Die Zinsschranke verhindert ab einer gewissen Summe, dass Gewinne im Ausland und Verluste im Inland steuerlich geltend gemacht werden können. Wir wollen außerdem die Verhaltensweisen, die zu der Finanzkrise geführt haben, sanktionieren. Deswegen sollen bei der Haftung von ManagerInnen künftig Verjährungsfristen von zehn Jahren gelten. Dies muss einhergehen mit der Erhöhung der Selbstbeteiligung in der ManagerInnenhaftpflicht. Die strafrechtliche Verfolgung der BetrügerInnen und SpekulantInnen muss konsequenter angegangen werden. Deals mit geringen Freiheitsstrafen auf Bewährung dürfen in Wirtschaftsprozessen nicht zur Normalität werden.
SteuersünderInnen hinterziehen dem Gemeinwesen und damit dem Sozialstaat dringend benötigtes Geld. Dies können wir Jusos nicht länger dulden. Wir fordern die personelle Aufstockung der Steuerfahndung und den konsequenten und bundeseinheitlichen Ankauf von SteuersünderInnen-CDs. Der OECD-Standard zum Auskunftsaustausch in Steuersachen ist weltweit anerkannt. Jetzt müssen die Regelungen aber auch ohne Verzögerung und in Gänze umgesetzt werden.
Teilhabe ermöglichen – Perspektiven schaffen
Gute Arbeit ist der Schlüssel zur Teilhabe in unserer Gesellschaft. Deshalb bekennen wir uns zum Ziel der Vollbeschäftigung. Deshalb bleibt der Kampf gegen die Geißel der Massenarbeitslosigkeit weiter unsere wichtigste Aufgabe.
Das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft hat unser Land zu einer der stärksten Wirtschaftsnationen der Welt gemacht. Erst das Miteinander von Arbeitgeber und ArbeitnehmerInnen, die Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmen und Gewerkschaften, ermöglicht Demokratisierung und Teilhabe in der Wirtschaft. Wir SozialdemokratInnen bekennen uns deshalb zu starken Gewerkschaften und deren wichtiger Rolle für die Arbeitswelt und Gesellschaft. Gerade in der Wirtschaftskrise haben BetriebsrätInnen und ihre Gewerkschaften einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung von Arbeitsplätzen geleistet.
In der Wirtschaftskrise ist das Gebot der Stunde die Sicherung und Schaffung von guten Arbeitsplätzen. Mit der Ausweitung des Kurzarbeitergeldes hat die SPD ein wichtiges Instrument entwickelt, um in der Krise Arbeitsplätze und Know-How in den Betrieben zu erhalten. Doch auf dem Weg zu guter Arbeit bleibt noch viel zu tun. Die Einführung eines allgemeinen, gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohns in Deutschland ist überfällig. Wir wollen des Weiteren die Ausnutzung von PraktikantInnen verhindern, in dem wir Praktika zeitlich begrenzen, für eine Mindestvergütung sorgen und PraktikantInnen in allen arbeitsrechtlichen Regelungen gleichstellen.
Gleichzeitig brauchen Menschen mit niedrigem Einkommen unsere ganze Aufmerksamkeit. Der Staat muss steuernd eingreifen, um Arbeit im niedrig entlohnten Bereich so zu gestalten, dass neben Existenz sichernder Einkommen auch die soziale Absicherung in den Vordergrund rückt. Wir dürfen nicht zulassen, dass die GeringverdienerInnen von heute die armen RentnerInnen von morgen sind.
Wir schlagen dafür den „Bonus für Arbeit“ auf der Grundlage progressiv gestaffelter Sozialversicherungsbeiträge vor. Finanziert aus Steuermitteln senkt der Staat die Sozialversicherungsbeiträge für Menschen mit niedrigen Einkommen. So lohnt sich Arbeit wirklich wieder und Tausende Jobs im Dienstleistungssektor können als sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeitsplätze entstehen. Die Mini- und Midijob-Regelungen gehen in diesem Modell auf. So schaffen wir im Sozialversicherungssystem das, was wir im Steuersystem mit seinen steigenden Steuersätzen bereits haben: eine Progression, für eine Umverteilung von oben nach unten. Gerade im Bereich der Alten- und Krankenpflege bietet sich so die Möglichkeit, neue Arbeitsplätze mit Perspektive zu schaffen. Wo individuelle Betreuung und Hilfe von Nöten ist, müssen durch staatliche Unterstützung die Rahmenbedingungen für eine Erweiterung der Personalstruktur geschaffen werden. ArbeitnehmerInnen werden entlastet durch zusätzliche KollegInnen und menschliche Nähe durch mehr Zuwendung kann ermöglicht werden.
Des Weiteren streben wir einen differenzierten Arbeitgeberanteil zur Arbeitslosenversicherung in Abhängigkeit vom Entlassungs- und Einstellungsverhalten des Unternehmens an. Unternehmen sollen so bei Entlassungen an den Kosten der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosigkeit beteiligt werden. Dagegen sollen Unternehmen, die MitarbeiterInnen einstellen, durch niedrigere Beiträge belohnt werden.
Einem flächendeckenden öffentlichen Beschäftigungssektor stehen wir kritisch gegenüber. Er hätte den gleichen Effekt wie eine völlige Deregulierung des ersten Arbeitsmarktes: Reguläre Arbeitsplätze und ordentliche Unternehmer, die gute Tariflöhne zahlen, werden aus dem Markt gedrängt und benachteiligt. Wenn aber nur Tätigkeiten ausgeübt werden sollen, die weder sinnvoll noch sinnstiftend sind, werden Hunderttausende Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und entfernen sich noch weiter vom regulären Arbeitsmarkt.
Wir sehen allerdings gerade im Bildungs- und Pflegebereich einen erhöhten Bedarf für einen öffentlichen geförderten Beschäftigungssektor, der nicht über so genannte marktgängige Arbeitsplätze abzudecken ist. Wir setzen hier auf den verstärkten Einsatz der Wohlfahrtsverbände, die mit ihrer langjährigen Erfahrung auch bei der Zieldefinition beteiligt werden sollen. Hierzu ist es aber unbedingt notwendig, die Kommunen auch finanziell zu unterstützen.
Der Missbrauch der Leiharbeit muss endlich beendet werden. Leiharbeit muss als positives Instrument begriffen werden: Sie soll helfen, Auftragsspitzen abzudecken und Menschen in dauerhafte Arbeit zu führen. Deshalb bleiben wir bei unserer Forderung, die Entleihdauer auf maximal 12 Monate zu begrenzen. Außerdem müssen für LeiharbeiterInnen die gleichen Rechte („Equal treatment“) und die gleiche Bezahlung („Equal pay“) wie für die Stammbelegschaft gelten, und zwar ab dem ersten Arbeitstag. Gleichzeitig soll auch der Anteil von LeiharbeiterInnen an der Stammbelegschaft auf maximal 20 Prozent begrenzt werden.
Unser Sozialstaat braucht keine Sündenbock-Kultur, wie sie von den Neoliberalen und ihrem Vorkämpfer Guido Westerwelle gefordert wird. Und unser Sozialstaat braucht auch keine Vollkasko-Kultur, wie sie die Linkspartei fordert. Neues Vertrauen wird der Sozialstaat nur durch eine Kultur der Perspektiven und des Aufstiegs gewinnen.
Deshalb müssen Schulungs- und Qualifizierungsangebote für Arbeit suchende Menschen ausgeweitet werden. Dazu gehört auch eine bessere personelle Ausstattung der Bundesagentur für Arbeit und eine bessere Betreuungsrelation in den Jobcentern. So soll das Verhältnis zwischen VermittlerInnen bei der Bundesagentur und Hilfebedürftigen allerhöchstens 1 zu 75 betragen. Damit bleibt mehr Zeit für den Menschen.
Unsere Hilfe – individuell und menschlich
Menschen, die die Hilfe des Sozialstaates brauchen, dürfen nicht durch die Inanspruchnahme staatlicher Leistungen vor so viele neue Probleme gestellt werden, dass sich ihre Situation noch verkompliziert oder neue Probleme hinzukommen. Wir wollen einen Sozialstaat, der seine Hilfe transparent, einfach, unkompliziert und ohne Kompetenzstreitigkeiten erbringt. Dies ist dann möglich, wenn der Dialog das Formular ersetzt, wenn Menschen mit Menschen kommunizieren. Wir sind uns bewusst, dass dies einer enormen Aufstockung des Personals bedarf. Wir sind aber der Meinung, dass sich nur durch eine intensive Betreuung und Beratung die vielfältigen Probleme in den Griff bekommen lassen, denen sich hilfebedürftige Menschen gegenüber sehen.
Gerade wenn man verfestigte Armut wirksam bekämpfen will, sind mehrere Instrumente notwendig, um Menschen wieder eine Perspektive zu geben. Um diese Instrumente aufeinander und auf die Hilfebedürftigen abzustimmen, fordern wir weiterhin die Hilfe aus einer Hand. Das heißt aus unserer Sicht, dass es eine Ansprechperson im Jobcenter gibt, die sich Zeit nimmt, Maßnahmen koordiniert, weiter vermittelt und damit den Weg aus der persönlichen Krise begleitet und unterstützt. Dies alles hat zur Konsequenz, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe beibehalten und die Zusammenarbeit zwischen Bundesagentur, Kreis und auch Stadt weiter vorangetrieben werden muss. Auch hier gilt, dass Verantwortung v.a. dort wahrgenommen werden muss, wo die Probleme sichtbar werden. Deshalb wollen wir eine stärkere Rolle der Kommunen in den neuen ARGEn. Jedoch ist nicht allein die Frage, ob Kommunen alleine oder mit der Agentur für Arbeit die Betreuung von Langzeitarbeitslosen übernehmen, entscheidend für den Erfolg. Vielmehr geht es darum, die Hilfe aus einer Hand wirklich zu realisieren und jedem/r Hilfebedürftigen die individuell notwendige Unterstützung zukommen zu lassen.
Hierfür müssen die staatlichen Stellen, die unmittelbar in der Beratung und Betreuung von Hilfebedürftigen tätig sind, unbedingt personell aufgestockt werden. Dies sind aus unserer Sicht: die Erziehungs- und Familienberatung, die Jugendhilfe, die SchuldnerInnenberatung, die Drogen- und Suchthilfe, die Integrationsbeauftragten, die psychologischen Beratungsstellen und die schulpsychologischen Beratungsstellen. Erst wenn diese Leistungen stärker mit den Integrationsleistungen der Jobcenter verknüpft werden, kann die Hilfe aus einer Hand wirklich erfolgen.
Wir sind der Meinung, dass den Kommunen im aktuellen Finanzgefüge nicht die Mittel zukommen, die sie brauchen, um ihre sozialstaatlichen Aufgaben zu erfüllen. Dabei sind es gerade die Kommunen, die am besten wissen, welche Mittel und Maßnahmen wo und bei wem benötigt werden. Wer also einen guten Sozialstaat will, muss auch für eine bessere finanzielle Ausstattung der Kommunen sorgen.
Klein anfangen – Kinder und Eltern unterstützen
Eltern und ihre Kinder brauchen die besondere Aufmerksamkeit des Staates. Aus unserer Sicht sollten Investitionen bei der Kinderbetreuung daher zuallererst in den Aufbau von Betreuungsinfrastruktur mit gut ausgebildeten BetreuerInnen fließen. Soziale Kommunalpolitik muss sich daher für die schrittweise Einführung der Beitragsfreiheit in Kinderbetreuungseinrichtungen einsetzen.
Unserer Meinung nach ist der Bedarf nach Betreuungseinrichtungen für unter Dreijährige weitaus größer als er bisher vom Gesetzgeber gesehen worden ist (35 Prozent). Wir sind daher für eine Aufstockung der bisher ab 2013 vorgeschriebenen Betreuungseinrichtungen für die folgenden Jahre. Dies ist aber nur machbar, wenn das Land endlich seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommt.
Wir wollen aber auch, dass die zusätzlichen finanziellen Belastungen, die mit Kindern verbunden sind, gerecht und zielgerichtet durch den Staat ausgeglichen werden. Deshalb machen wir uns dafür stark, das Modell einer Kindergrundsicherung in Deutschland einzuführen. Bestehende Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung von Kindern und Familien werden zugunsten der Zahlung einer Kindergrundsicherung zusammengefasst.
Diese Förderung von 350 Euro kommt allen Kindern ab Geburt bis zur Beendigung der Berufsausbildung, längstens jedoch bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres, zugute und wird ohne vorherige Bedarfsprüfung ausgezahlt. Dadurch kann eine versteckte Armut verhindert werden. Entsprechend der finanziellen Leistungsstärke der Eltern wird diese Kindergrundsicherung besteuert. So ist gewährleistet, dass Kinder aus Haushalten, deren Eltern BezieherInnen von Sozialleistungen nach dem SGB II sind oder niedrige Erwerbseinkommen haben, von dieser Förderung profitieren. Die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) bleiben davon unberührt. Diese können weiterhin nach einer Bedarfsprüfung in Anspruch genommen werden.
Mit diesen Maßnahmen stellen wir sicher, dass für die Kleinsten gute Betreuungseinrichtungen zur Verfügung stehen und die Eltern die finanzielle Unterstützung erhalten, die sie für die Erziehung ihrer Kinder benötigen.